Das Ticket zum Land hinter der Regenbogenbrücke
Den Telefonhörer noch in der Hand, stehe ich da und weiß, dass nun die Zeit des Abschieds gekommen ist… Eigentlich hatte ich das Ticken der Uhr, des letzten Countdowns, schon die ganze Zeit gehört, wenn ich meinen über alles geliebten Hund die letzten Wochen beobachtete… Hoffte, dass ich mir die Beschwerden, die sich auf seinem Gesicht spiegelten, wenn er sich vorsichtig seine Position auf seinem Liegeplatz suchte, nur einbildete. Im Nachhinein gesehen gab es viele Hinweise. Ja, er war alt geworden und eigentlich war die Untersuchung reine Routine, redete ich mir ein, doch ich hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte. Nun habe ich das Ticket zum Land hinter der Regenbogenbrücke bekommen und niemand kann mir sagen, wann der Flug für die lange Reise nach Hause starten würde. Noch klingen die Worte des Tierarztes in meinem Ohr. Es sei schwer, zu sagen, wie lange es dauert… wie lange das Leben noch erträglich sein würde, bevor es erbärmlich wird für meinen Hund… für meinen treuen Wegbegleiter. So viele Jahre… denke ich, während Tränen über meine Wangen laufen, als hätten sie nur auf diesen Augenblick gewartet.
So oder ähnlich beginnt für viele von uns die Zeit des Abschieds. Bereits, wenn wir ein Tier zu uns holen, wissen wir, dass es uns nicht unser ganzes Leben lang begleiten wird. Doch für die Bereicherung, die wir durch unsere Tiere erfahren, sind wir bereit, unsere Herzen zu verschenken, wohl wissend, dass sie irgendwann unweigerlich gebrochen werden. Mit den Jahren, die unser Tier ganz selbstverständlich an unserer Seite ist, wächst unsere Liebe und unsere Bindung zu ihm mehr und mehr, und wir versuchen tapfer, die ersten weißen Härchen zu ignorieren, hoffen, dass das Unausweichliche noch Jahre entfernt ist. Irgendwann müssen wir aufwachen, aus diesem Traum, werden unsanft geweckt… durch eine Diagnose oder dass unserem Tier plötzlich die Beine versagen… und mit einem Mal sehen wir vor uns einen alten Hund mit weißem Gesicht und trüben Augen, der doch eben noch ganz jung gewesen war… Von diesem Zeitpunkt an müssen wir uns mit dem Tod auseinandersetzen, ob wir wollen oder nicht.
Es ist die Zeit, vor der wir uns so lange gefürchtet hatten… die Zeit der stillen Dialoge, die Zeit der Gedanken und Erinnerungen. Es reicht, einfach nur beisammen zu sein und die Gegenwart des anderen zu spüren, sich jede Kleinigkeit einzuprägen, wie es sich anfühlt, um es festzuhalten, für die Zeit danach… wenn der, der da neben uns geht, irgendwann nur noch im Geiste bei uns sein wird. Wir möchten die Zeit zurückdrehen, haben das Gefühl, dass es noch so viel zu sagen gibt, möchten uns für Fehler entschuldigen, die wir machten, als wir es damals, vor langer Zeit, einfach nicht besser wussten… und plötzlich kommt die Angst, dass die Zeit nicht reichen wird… denn der Tod sitzt auf unserer linken Schulter und die Uhr tickt unaufhaltsam weiter.
Der richtige Zeitpunkt
Eines Morgens wache ich auf und gehe verschlafen in die Küche. Plötzlich beginnt mein Herz zu rasen, als ich merke, dass mein Hund mir nicht wie gewohnt gefolgt war. Ich beruhige mich erst, als ich ihn entspannt schlafend in seinem Bettchen vorfinde, weil er einfach nur den Wecker nicht gehört hatte. Was wäre, wenn er jetzt tot gewesen wäre? Wir haben uns doch gar nicht verabschiedet… Es war doch noch nicht der richtige Zeitpunkt! Doch gibt es tatsächlich einen richtigen Zeitpunkt für das Sterben? Kommt der Tod nicht immer zu früh oder zu spät oder einfach zur falschen Zeit?
Lange versuchen wir mit allen Mitteln, den Tod von uns und unseren Lieben fernzuhalten, sind scheinbar zu beschäftigt, bis er plötzlich vor der Tür steht, wie ein Dieb in der dunklen Nacht. Die Tatsache, vielleicht über Leben und Tod unseres treuen Begleiters entscheiden zu müssen, bereitet uns große Probleme. „Werde ich es wissen, wenn der Zeitpunkt gekommen ist?“ ist eine der Fragen, die wir uns immer wieder stellen. Auf gar keinen Fall möchten wir ihn leiden lassen, ihm große Schmerzen und einen unwürdigen Tod ersparen. Der Wunsch, dass unser altersschwacher Gefährte eines Tages einfach tot auf seinem Lieblingsplatz liegt und uns die schwerste aller Entscheidungen abnimmt, geht leider selten in Erfüllung.
In den meisten Fällen ist das Sterben keine einfache Sache. Oft ist es eine lange Leidenszeit, in der wir früher oder später unserem Tierarzt die Frage stellen „Soll ich ihn nun von seinem Leiden erlösen?“ Wir brauchen Hilfe, weil wir so eng mit unserem Tier verbunden sind, dass wir nicht mehr klar sehen können. Tatsächlich ist es die größte Schwierigkeit, bei der Pflege eines sehr kranken oder alten Tieres, ein klares Bild von ihm zu behalten, da unsere Herzen es verwischen möchten. „Ist mein Tier bloß alt und gebrechlich oder leidet es? Hat es trotz aller Einschränkungen noch Lebensqualität… oder ist das Dasein zur Qual geworden? Sind da Schmerzen und wenn ja, inwieweit ist es noch erträglich?“ sind die Fragen, auf die wir verzweifelt eine Antwort suchen.
Tatsächlich ist es ein Privileg unserer Tiere, dass sie von ihrem Leiden erlöst werden können, wir ihnen ein schreckliches Ende ersparen können. Die Vorstellung, unser Tier auf einer nächtlichen Fahrt in die Tierklinik qualvoll sterben zu sehen, ist unerträglich. Glücklich schätzen können wir uns, wenn wir in dieser Situation einen Tierarzt haben, der uns und unser Tier schon viele Jahre kennt, mit dem wir vertrauensvoll all unsere Fragen und Ängste besprechen können. Aber auch der intuitive Einblick in das Wohlbefinden unseres Tieres mithilfe der Tierkommunikation kann zusätzlich eine große Hilfe sein. Manchmal ist es überraschend, zu hören, wie gut die Tiere mit Alter und Krankheit umgehen und dass sie noch gar nicht daran denken, sich zu verabschieden. Tiere müssen nicht in jedem Fall von ihren Leiden erlöst werden. Sie sind sehr wohl imstande, ihren eigenen Tod zu wählen. Ein Tier im Sterben zu begleiten, kann ein sehr erfüllendes Erlebnis und eine tiefgreifende Erfahrung sein.
Doch oft bestätigt sich unser Gefühl, dass unser Tier bereits alles gegeben hat, des Kämpfens müde ist und mehr als bereit ist, zu gehen. Es ist wichtig, diese letzte Entscheidung nicht nur vom Kopf her zu treffen, denn der Kopf mit seinem brillanten Verstand hat hier nichts zu suchen. Nur das Herz weiß um den richtigen Zeitpunkt. Angesichts des Leidens ist der Kopf schnell bereit, zu handeln, während das Herz etwas länger braucht. Hier hilft es, sich Zeit zu nehmen, bei seinem Tier zu sein, sich hineinzufühlen, die Stille zuzulassen und ganz tief in sich hineinzuhören, denn Abschiednehmen und Loslassen ist ein wichtiger Vorgang… und wer es schafft, sein geliebtes Tier wirklich gehen zu lassen, erleichtert diesem das Sterben. Die Tiere sind oft so eng mit uns verbunden, dass sie in eine große Unruhe und Verzweiflung geraten, wenn sie spüren, dass wir noch nicht bereit sind, sie gehen zu lassen.
Wir sollten uns von niemandem drängen lassen und wenn es irgend geht, die Umstände, unter denen wir Abschied nehmen, bestimmen können, um das Leben unseres jahrelangen Begleiters nicht von jetzt auf gleich in einer Box in der Tierklinik zu beenden. Denn in dieser Phase heißt es, sehr behutsam vorzugehen und im Zweifelsfall immer zu warten, bis wir mit den Gedanken im Reinen sind und auch das Herz soweit ist, da durch eine vorschnelle Entscheidung Schuldgefühle zurückbleiben können, die uns noch lange schwer belasten. Warten heißt nicht, nichts zu tun und der Verantwortung auszuweichen, sondern sich intensiv mit dem Tod und dem Verlust auseinanderzusetzen, um dann ehrlich, gesammelt und mit dem Herzen Abschied nehmen zu können, dem Tier die Erlaubnis zu geben, sich von dieser Welt zurückzuziehen!
Verabredung im Universum
Eine Freundin saß nach dem Tod ihres Hundes unter Tränen bei ihm und befreite seine Pfotenballen von verfilzten Fellknoten, die sich in den letzten Wochen durch seinen schlurfenden Gang, zu dem ihn seine körperlichen Gebrechen gezwungen haben, gebildet hatten. Warum hatte sie das nicht bemerkt? Es war ihr das Wichtigste, in diesem Moment, dieser letzte Beweis ihrer Liebe, bevor sein Körper für immer in der Erde begraben sein würde. Die anderen Hunde der Familie nahmen, nachdem sie ihn noch einmal neugierig beschnüffelt hatten, keinerlei Notiz mehr von ihm, als wollten sie sagen „Es ist gut. Die Seele hat sich auf den Weg gemacht. Das da ist nur noch eine leere Hülle.“
Ich weiß, dass unsere Tiere mehr sehen und wahrnehmen können von der anderen Welt. Vielleicht ist das auch der Grund, warum Tiere weniger Angst vor dem Tod haben, als wir Menschen. Die Tiere wissen um die tiefe Bedeutung von Leben und Sterben als Teil des normalen Kreislaufs in der Natur. Sie wissen, wann es Zeit ist, zu gehen. Oft sind sie so ruhig und gefasst, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, sich von dieser Welt zu verabschieden, dass man sich genau in dem Moment ganz sicher ist, dass sie um diese – mit unserer heutigen Wissenschaft nicht nachweisbare – geistige Dimension wissen, wo noch viel spannendere Abenteuer auf uns alle warten, wenn wir unseren physischen Körper verlassen.
Wenn wir uns entschieden haben, den letzten Gang mit unserem Tier zu gehen, es ohne Kampf und weitere Schmerzen gehen zu lassen und in aller Ruhe Abschied genommen haben… alles gesagt haben, was wichtig war, breitet sich eine fast unwirkliche – mit dem bloßen Verstand kaum fassbare – friedliche Atmosphäre aus. Wir halten unser Tier in den Armen und es gibt keine Zweifel mehr. Der letzte Blick unseres Gefährten ist ruhig und vertrauensvoll… als begrüße er den Tod als Befreiung seiner Seele, bevor die letzte Spritze den letzten Atemzug aus dem über alles geliebten Körper entweichen lässt. Und ganz plötzlich, als hätte jemand einen Schleier weggenommen, liegt vor uns der wunderschöne makellose Körper unseres Tieres, als wäre es um Jahre verjüngt… all die Zeichen von Krankheit, Schmerz und Alter, sind wie weggewischt… als würde es nur schlafen, friedlich und entspannt, zum letzten Mal.
Das ist der Augenblick, in dem uns eine tiefe Gewissheit erfüllt, dass es richtig war. „Ja, heute war ein guter Tag zum Sterben.“ Ganz leise mischt sich in die Trauer auch Erleichterung. Das war der Moment, den wir so lange gefürchtet, mit so vielen Tränen erwartet hatten. Irgendwann wird es immer weniger weh tun im Herzen… Dankbar werden wir zurückdenken an jeden Augenblick, den sie bei uns gewesen sind. Irgendwann…
Die Frühlingsblumen blühen und ich sitze in der Nähe deiner letzten Ruhestätte, denke an die bedingungslose Liebe, die du mir jeden einzelnen Tag deines Lebens geschenkt hast. Was würde ich dafür geben, dich noch einmal zu umarmen, dein weiches Fell zu spüren… Ich weiß, dass es nur dein Körper ist, der da kalt und steif in der Erde liegt. Das bist nicht mehr du. Deine Seele, sie ist jetzt dort, wo es keine Schmerzen mehr gibt. Auf den grünen Wiesen dort irgendwo im Himmel… in dieser unsichtbaren Welt, von der die Menschen erzählen, die diese Grenze zwischen Leben und Tod schon einmal überschritten haben, dass es dort so wunderschön ist, dass man gar nicht mehr zurückkehren möchte. Es ist diese andere Ebene der Existenz, aus der wir in unsere sichtbare Welt inkarnieren… und in die wir nach unserem Tod wieder zurückkehren…. Es ist unser aller wahres Zuhause.
Viele Menschen berichten davon, dass sie ihre Tiere noch lange, nachdem sie gegangen sind, sehen, hören und fühlen können. Auch ich höre oft noch deine Krallen auf dem Boden hier im Haus, kann den typischen Geruch deines Fells riechen… Und wir treffen uns nachts in meinen Träumen. Da stehst du wieder vor mir, mit wedelnder Rute und leuchtenden Augen. Dein Fell hat einen wunderschönen Glanz und du lachst mich an, wie früher… forderst mich zu unserem alten Spiel auf. Und wenn ich aufwache, bin ich mir sicher, dass du noch da bist und dass sich unsere Seelen wieder finden werden, hier oder irgendwo da draußen… im Land hinter der Regenbogenbrücke.
© Sylvia Raßloff
Dieser und weitere Artikel von mir sind im Jahr 2014 in der Hundezeitschrift „Your Dog“ (http://www.your-dog.at/) erschienen.